Es dauerte, bis die Fabrikbesitzer einverstanden waren und Florian Müller in den Fabriken fotografieren konnte. Die Arbeiter abzulichten, stellte die nächste Hürde dar, da die Sprachbarriere die Kommunikation erschwerte. Darüber hinaus kannten die Porträtierten Fotografie meist nur von Hochzeitsfeiern und für Ausweisdokumente. Es fiel ihnen anfangs schwer, ihre Scheu abzulegen und sich nicht durch den Fotografen von der Arbeit ablenken zu lassen.
Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) arbeiten weltweit nur in China mehr Menschen in der Textil- und Bekleidungsindustrie als in Indien. Festangestellte Arbeiter verdienen in Gujarat monatlich umgerechnet etwa 90 US-Dollar. Sogenannte Vertragsarbeiter, die in vielen Werken die große Mehrheit stellen, verdienen maximal die Hälfte. Sie werden über Arbeitsvermittler angestellt und bestehen zu einem großen Teil aus saisonalen Arbeitsmigranten. "Laut Schätzungen", sagt Müller, müsste ein Kleidungsstück bei uns nur 50 Cent teurer sein, damit sich vor Ort die Löhne verdoppeln."
Wegen ihrer Armut nehmen die Arbeiter auch unzumutbare Arbeitsbedingungen hin. Gesundheitliche Schäden drohen durch den Umgang mit Chemikalien sowie durch den Staub, der bei der Arbeit mit Baumwolle freigesetzt wird. Kinderarbeit ist selbstverständlich. "Natürlich gibt es auch in Indien Auflagen, nur kümmert das niemanden", schildert Müller seine Eindrücke. Korruption sei weitverbreitet. Und wenn von behördlicher Seite Maßnahmen ergriffen würden, sind diese oft eher wirkungslos. Durch Abschalten der Stromversorgung sollte beispielsweise wenigstens ein freier Tag in der Woche erzwungen werden. Für die Beschäftigten bedeute dies jedoch noch mehr Arbeit, da sie das gleiche Pensum verteilt auf weniger Tage leisten müssten.
Text: Jörg Hein
Foto: Florian Müller