Rund 2.000 Arbeitnehmer zwischen 16 und 65 Jahren wurden vom wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) gefragt, wie sie ihren Arbeitsalltag erleben. In ihrem aktuellen Fehlzeitenreport hat die AOK auch den Zusammenhang zwischen schlechter Unternehmenskultur und der Gesundheit der Mitarbeiter untersucht. Die Ergebnisse zeigen: Arbeitnehmer wünschen sich einen Chef, der hinter ihnen steht (78 Prozent), Lob für gute Arbeit (69 Prozent) und Einfluss auf wichtige Entscheidungen (60,5 Prozent). Am Arbeitsplatz erleben sie diese Faktoren aber deutlich seltener. Nur die Hälfte aller Befragten fühlte sich vom Arbeitgeber geschätzt und unterstützt.
Eine hohe Arbeitsverdichtung im Job führt oft zu Stress, wenn kollegiale Hilfe und Lob vom Chef auf der Strecke bleiben. Aber es ist eben oft auch eine Frage der Unternehmenskultur. Ist diese schlecht, steigt das Risiko krank zu werden und trotzdem zur Arbeit zu gehen, sagen die Forscher des WIdO. Den Arbeitswissenschaftler Guido Becke vom Institut für Arbeit und Wirtschaft (iaw) überraschen die Studienergebnisse nicht: "Eine Unternehmenskultur lässt sich als im Laufe der Zeit heraus geprägte gemeinsame Grundorientierung im Unternehmen verstehen. Sie besteht also nicht nur aus dem Unternehmensleitbild oder dem Führungsverständnis. Im täglichen Miteinander entstehen ungeschriebene Gesetze, wie etwa `Jeder bekommt eine zweite Chance, wenn ein Fehler passiert´." Der Zusammenhang von fehlender Anerkennung oder Lob und schlechter Stimmung hat auch das iaw bereits in Studien ermittelt: "Wenn Unternehmen etwa in Krisenzeiten Sozialleistungen reduzieren, diese nach der Krise aber nicht zurücknehmen, fühlen die Beschäftigten sich für ihren Einsatz nicht wertgeschätzt", sagt Becke.
"Ein gesundes, engagiertes Einsatzlevel liegt eigentlich bei rund 80 Prozent der maximalen Leistungsfähigkeit."
Verena Hartig
Generell sei gegenseitige Anerkennung ein entscheidender Faktor für das subjektive Empfinden und den Umgang mit Belastungen. Stimme das Verhältnis von Geben und Nehmen zwischen Leitung und Beschäftigten sowie die Kommunikation in Teams und im Unternehmen nicht, könnten zusätzliche belastende Arbeitsbedingungen entstehen.
"Unabhängig von der Branche oder tatsächlichen Vorfällen wie Unfällen oder Burn-out-Diagnosen, ist jeder Arbeitgeber dazu verpflichtet, eine Gefährdungsbeurteilung für sein Unternehmen zu ermitteln", stellt Dennis Wernstedt klar. Er ist Referent für Arbeits- und Gesundheitsschutz mit dem Schwerpunkt psychische Belastungen bei der Arbeitnehmerkammer. Nach dem Arbeitsschutzgesetz hat der Arbeitgeber die Pflicht, Arbeitsplätze menschengerecht zu gestalten. Hierfür ist die Gefährdungsbeurteilung ein wichtiges Instrument. Seit 2013 schließt eine Novellierung explizit den Aspekt "psychischer Belastungen" mit ein. "Diese Formulierung zur Psyche zielt hier ganz klar auf die Frage, wie Arbeit gestaltet ist und welche Einflüsse während und durch die Arbeit auf die Mitarbeiter zukommen", erklärt Wernstedt. Der Arbeitgeber kann verschiedene Befragungsmethoden oder Analyse-Workshops nutzen. So entsteht ein Bild darüber, wie etwa die Abläufe im Betrieb sind, welche Handlungsspielräume oder Unterbrechungen es in jeder Abteilung gibt und wie das Verhältnis zwischen Kollegen oder einzelnen Mitarbeitern zum Chef aussieht. Wernstedt rät jedem Beschäftigten, sich selbst zu fragen, wo seine Belastungsgrenzen liegen und sich bei Bedarf an den Betriebs- oder Personalrat zu wenden. Es geht um Veränderungen der Arbeitsbedingungen, nicht um die persönliche Belastbarkeit. "Bei einer Gefährdungsbeurteilung ist es auch Sache der Betriebsräte, darauf zu achten, dass die Bestandsaufnahme der Arbeitsbedingungen im Vordergrund steht, statt das individuelle Leistungspotenzial der Mitarbeiter", sagt der Kammerexperte.
Betriebsärztin Verena Hartig betont, dass in vielen Branchen Beschäftige dauerhaft extrem viel leisten müssen: "Dabei liegt ein gesundes, engagiertes Einsatzlevel eigentlich bei rund 80 Prozent der maximalen Leistungsfähigkeit. Kurze Zielsprints mit 100 Prozent Auslastung sind nur mit anschließender Entspannungsphase kein Problem. Bei dauerhaft zu hohen Leistungsvorgaben kann sich der Mensch nicht regenerieren", sagt sie. Gehe auch im Privaten noch etwas schief, sei potenziell jeder Mitarbeiter schnell gefährdet, wenn der Führungsstil ungesund ausfällt oder der Rückhalt im Team fehlt.
"Bei einer Gefährdungsbeurteilung geht es um Veränderungen der Arbeitsbedingungen, nicht um die persönliche Belastbarkeit."
Dennis Wernstedt
Eine Problembranche ist beispielsweise die mit den Folgen der Finanzkrise kämpfenden Banken und Versicherungen. "In Bremen und Niedersachsen sind psychische Belastungsfaktoren derzeit nicht im Fokus der Verantwortlichen", kritisiert Rainer Martens, Vorsitzender der ver.di-Fachgruppe Banken. "Seit der Finanzkrise beobachten wir hauptsächlich Sparpolitik und Personalabbau. Außerdem definieren die Vorstände immer engere verbindliche Handlungsanweisungen bis hin zu Minutenvorgaben. Das schafft enorme Arbeitsverdichtung." Viele Beschäftigte litten unter der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. "Die engen Vorgaben sorgen für Leistungsdruck unter Kollegen, aber auch für Vergleichbarkeit und damit weniger Gerechtigkeitskonflikte", beschreibt er das Arbeitsklima weiter. Platz für individuelle Problemlösungen bliebe den Verantwortlichen in den Filialen nur im Einzelfall. Gesundheitsförderung finde lediglich mit funktionalem Blick auf ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze statt.
"Rückenkurse oder Entspannungstechniken mögen Stresssymptome abmildern, aber sie bekämpfen nicht die Ursachen von Fehlbelastungen. Beschäftige sind jedoch ein Leben lang – auch für die Erwerbsarbeit – auf ihre Gesundheit angewiesen und verdienen daher auch eine gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung“, macht Dennis Wernstedt deutlich. Er steht Betriebs- und Personalräten bei der Mitbestimmung im Arbeits- und Gesundheitsschutz zur Seite, um diese Themen im Unternehmen stärker zu verankern.
Gesunde Arbeitsbedingungen schaffen
"Wenn es darum geht, gesunde Arbeitsbedingungen zu gestalten, müssen Geschäftsführung und Personalverantwortliche beides in den Blick nehmen: das Verhalten der Mitarbeiter, aber auch die Verhältnisse und Rahmenbedingungen für ihre Arbeit. Beispielsweise lassen sich die konkreten Belastungen von Teams im Unternehmen überprüfen, wenn die Zielvorgaben mit dem Arbeitsaufwand und den Belastungsspitzen der Teams abgeglichen werden. So zeigt sich schnell, ob Teams unterbesetzt sind oder etwa die Bearbeitungszeit für Ziele zu gering angesetzt wurde. Vor allem Betriebsräte können solche Realitäts-Checks und offenes Nachdenken über die täglichen Arbeitsweisen initiieren."
Guido Becke
Text: Janina Weinhold
Fotos: Kay Michalak